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Aufstieg und Fall des Wing Chun

Von Sifu Duncan Leung, übersetzt von Thorsten Weber, überarbeitet von Ingun Schäfer (Quelle: Inside Kung-Fu, September 2000)

Im Hong Kong der frühen 1950er Jahre waren die Chinesischen Kampfkünste beliebt unter den jungen Leuten und in der Arbeiterklasse. Es gab viele verschiedene Stile wie Hung Gar, Weißer Kranich, den Drachen Stil und Choy Lai Fut. Das Wing Chun musste noch entdeckt werden. Ein junger Mann aus Foshan in China, Yip Man, lebte zu dieser Zeit dort. Er hatte Wing Chun in China gelernt und setzte seine Ausbildung in Hong Kong unter Leung Bik fort.

Er begann mit seinem Unterricht in den Räumen der „Restaurant Association“. Später eröffnete er seine eigene kleine Schule in seiner Wohnung, die im Viertel der aus China Umgesiedelten lag und etwa 12 qm groß war. Die Jahre vergingen und er unterrichtete einige gute Schüler, so dass der Stil öffentlich bekannt wurde. Zu dieser Zeit forderten sich Vertreter der verschiedenen Stile oft privat heraus. Die frühen Schüler von Yip Man wie Lok Yiu und Wong Sheung Leung waren die eifrigsten und in ihren Kämpfen sehr erfolgreich.

Bruce Lee und Ted Wong hatten ihre eigenen Schulen und einige, u.a. Tsui Sheung Tin, begannen, privat zu unterrichten. 1957 ging William Cheung, ein weiterer früher Schüler Yip Mans, nach Australien. Auf dem Weg dorthin kam es zu einem Zwischenfall. Er schloss sich in der Matrosenkabine ein und kämpfte gegen mehr als zehn der Seeleute. Die Nachrichten darüber und den überragenden Wing Chun Stil füllten die Schlagzeilen der Australischen Zeitungen.

Etwa ein Jahr später ging Bruce Lee in die Vereinigten Staaten. Mit dem Start der Fernsehserie „The Green Hornet“ wurden die Amerikaner auf seine Kampfkunstfähigkeiten aufmerksam. Später ging er zurück nach Hong Kong und machte mehrere Filme, die die Welt schockierten. Die ganze Welt begann, etwas über Chinesisches Kung-Fu zu erfahren, besonders über den Wing Chun Stil. Nach Leung Sheungs Tod unterrichtete Leung Ting, einer seiner Schüler, einen Mann namens Gainsburg in Deutschland und brachte so das Wing Chun dorthin. Dann verbreitete Victor Kan Wing Chun in England. Yip Mans Neffe Lo Man Kam machte die Kunst in der Schweiz und seiner Heimat Taiwan bekannt. Wing Chun wurde zur beliebtesten Kampfkunst der Welt.

Als die Beliebtheit des Wing Chun ihren Höhepunkt erreichte, starb Yip Man. Bereits vor seinem Tod 1972 hatte Yip Man aufgehört zu unterrichten. Sein Rat jedoch war weiterhin gefragt. Seine ersten Jahre in Hong Kong waren sehr hart aber im hohen Alter wurde er von einigen reichen Schülern unterstützt, wie von Dung Sing und Chan Jee Chu, welche bei der „Hong Kong Royal Police“ arbeiteten. Er wurde als Oberhaupt der Wing Chun Familie verehrt und hatte, durch die Hilfe dieser Schüler, einen angenehmen Lebensabend. Leider benannte er keinen Nachfolger für die Führungsrolle im Wing Chun. Es ist möglich, dass er niemanden gefunden hatte, den er mochte oder der geeignet gewesen wäre. Vielleicht hat er sich im hohen Alter auch nicht mehr mit dieser Frage befasst.

Welche Gründe auch immer dazu führten, Yip Man war wirklich der letzte Großmeister des Wing Chun Stils. Nach seinem Tod wurde den Mitgliedern der Kampfkunstfamilie langsam klar, dass sie auf sich gestellt waren.

Das Wing Chun ist heute eine sehr große Familie mit Schulen auf der ganzen Welt. Aber jede erfolgreiche Organisation braucht einen Führer, der alle vereint und bei der Zusammenarbeit unterstützt. Die Erben und Schüler von Yip Man, die am besten dafür qualifiziert gewesen wären, uns zu vereinen und zu führen, waren aus den verschiedensten Gründen nicht gewillt oder nicht in der Lage dies zu tun.

Heute, 27 Jahre nach Yip Mans Tod, entfernen sich die Mitglieder der Wing Chun Familie immer weiter voneinander. Ohne Führung beginnen einige, auf ihre eigene Weise zu unterrichten, andere kritisieren diejenigen, die nicht mit ihrer Art des Unterrichts einverstanden sind. Wieder andere entwickeln sogar Theorien, die Yip Man niemals lehrte. Es gibt auch solche, die den Anspruch erheben, die einzig „wahren“ Lehrer des Wing Chun zu sein. Sie behaupten, dass nur diejenigen rechtmäßige Wing Chun Lehrer sind, die sie getestet und für qualifiziert befunden haben.

Unglücklicherweise beeinträchtigen Ansprüche dieser Art die Glaubwürdigkeit der gesamten Bewegung und tragen nur dazu bei, die Wing Chun Familie zu teilen. Wing Chun ist ein Kampfkunststil, es geht hier also um das Kämpfen. Man muss lange lernen und trainieren. Man muss es im Kampf einsetzen, um Erfahrungen in der Anwendung zu sammeln. Das ist sehr bedeutend. Schließlich kann es hierbei um Leben und Tod gehen. Es ist keine Urkunde, die man sich kaufen kann. So einfach ist es nicht. Jeder, der eine lange Zeit gelernt, trainiert und damit gekämpft hat, sollte einige Wahrheiten der Kunst verstanden haben. Wie kann jemand, der die Erfahrungen aller anderen anzweifelt und sich selbst als den einzig ‚wahren‘ Künstler der Welt bezeichnet, mit dieser Einstellung versuchen andere zu führen?

Die Grundlagen des Wing Chun sind in den Formen dargelegt, die uns Yip Man hinterlassen hat, aber die Prinzipien und Theorien wurden mündlich von ihm weitergegeben. Mag auch jeder einzelne die Ideen ein wenig anders interpretieren, ich bin sicher, Yip Man wäre froh, wenn wir, die wir von ihm gelernt haben, seine Lehre weitergeben.

Wenn wir eine gute Führung hätten, die alle zusammenbringt um Erfahrungen und Ideen unvoreingenommen zu akzeptieren und auszutauschen, dann könnte das Wing Chun blühen. Jeder würde von diesem Wissen profitieren. Ohne diese starke Bindung und die Unterstützung unter den Wing Chun Mitgliedern werden die Prinzipien und Theorien, die uns Yip Man hinterließ, von Generation zu Generation verloren gehen. Eines Tages wird den Stil niemand mehr kennen. Dann wird Wing Chun nur irgendein Name in der Geschichte der Kampfkünste sein.

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